Demenz: «Die Gefühle bleiben bis zum Schluss»
Wenn Worte verblassen, bleiben Gefühle. So erfährt es Matthias Renggli täglich in der Betreuung von Menschen mit Demenz. Wir haben ihn besucht – und gelernt, dass Emotionen auch ohne Sprache ihren Weg finden.
Kurz und einfach
Matthias Renggli betreut Menschen mit Demenz.
Er erzählt von seinen Erfahrungen.
Er sagt: Man muss auf die Betroffenen eingehen.
Gefühle sind dann wichtiger als Sprache.
«Grüezi!» Die Stimme von Matthias Renggli ist warm und sanft, als er den Bewohner der Demenzwohngruppe mit Namen begrüsst. «Wir waren gerade bei den Hühnern draussen», erzählt der Fachmann Betreuung. Der Bewohner lächelt. «Da wäre ich auch gerne dabei gewesen», sagt er leise. «Ich komme nachher nochmal mit Ihnen raus, dann schauen wir zusammen zu den Hühnern», sagt Matthias Renggli – klar, deutlich und ruhig. Ein paar Sekunden verstreichen, dann hellt sich das Gesicht des Bewohners auf. «Das würde mich freuen.»
Ein vermeintlich einfaches Gespräch kann so viel bewirken. Vor allem, wenn man mit Menschen mit einer Demenzerkrankung spricht. Matthias Renggli begleitet seit 8 Jahren die Bewohnenden im Lindengarten, der Demenzwohngruppe des Alters- und Pflegezentrums Kirchfeld in Horw im Kanton Luzern. «Das A und O ist die Kommunikation mit den Betroffenen», so Matthias Renggli.
Was ist Demenz?
Es gibt über 100 verschiedene Formen von Demenz – die bekannteste ist Alzheimer-Demenz. Doch alle haben eines gemeinsam: Die sogenannten kognitiven Fähigkeiten schwinden. Dazu gehören Konzentration, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Sprache, logisches und räumliches Denken, Lernfähigkeit, Wahrnehmung und mehr. Im Verlauf einer Demenzerkrankung wird der Alltag dadurch immer schwerer und Betroffene müssen betreut werden. In manchen Fällen ändert sich auch das soziale Verhalten oder bestimmte Wesenszüge der Person selbst. So kann eine eher zurückhaltende Person plötzlich sehr zugänglich und offen werden – oder auch umgekehrt.
Warnzeichen ernstnehmen
Vergesslichkeit ist zwar das bekannteste Anzeichen einer Demenzerkrankung – es heisst jedoch nicht, dass Sie bei gelegentlichem Vergessen von Namen oder anderen Dingen an Demenz erkrankt sind. Häufen sich jedoch die Gedächtnislücken gemeinsam mit Sprachstörungen, ungewohntem Verhalten oder plötzlichen Wesensänderungen, so machen Sie einen Termin in der Hausarztpraxis für die ersten Abklärungen. Bei einer frühzeitigen Behandlung können die Symptome gemildert und der Verlauf der Krankheit verlangsamt werden.
Eine eigene Welt – und das ist in Ordnung
Fähigkeiten gehen, Emotionen bleiben
Bei einer Demenzerkrankung schwinden die kognitiven Fähigkeiten – jene Werkzeuge, mit denen wir Signale aus unserer Umwelt aufnehmen, verstehen und einordnen. Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Sprache oder logisches Denken sind nur einige von ihnen. «Bei Menschen mit Demenz nehmen diese Fähigkeiten immer mehr ab», erklärt Matthias Renggli. «Darum erhält man in der Regel auch ungefilterte Reaktionen auf das, was man sagt oder tut. Selbst, wenn die Sprache wegfällt – die Emotionen bleiben. Dann geht man eben von der Sprache zurück auf die Gefühlsebene, auch in der Kommunikation. Man kann es sehen, ohne dass ein Wort gesprochen wird: ein Strahlen in den Augen, wenn etwas Freude bereitet. Ein angespannter Blick, wenn etwas nicht gut ankommt. Das finde ich besonders schön. Es wird nichts vorgespielt. Man muss es aber auch einstecken können, wenn es Widerstand gibt.»
Vorwärts gehen statt zurückhalten
Was tut den Bewohnenden des Lindengartens besonders gut? «Bewegung ist immer gut», erzählt Matthias Renggli. So kommt es auch vor, dass eine Person an der Türe steht und hinauswill. Oder – wie oben erwähnt – zum Kochen nach Hause gehen möchte. «Dann gehe ich einfach mit raus. Wir möchten die Bewohnenden ja nicht gegen ihren Willen zurückhalten. Ich gebe meinen Arbeitskollegen ein Zeichen, dann gehe ich mit der Person nach draussen, eine kleine Runde und beim Hintereingang wieder herein. Danach setze ich mich mit ihr noch hin und mache einen Tee. Die Aufbruchstimmung legt sich so meistens.» Die Devise ist: Mit der betroffenen Person vorwärts gehen, nicht zurückhalten. Mit dem gewissen Feingefühl.
Etwas Gutes tun
Feingefühl brauchen die Pflegenden auch mit den Angehörigen, denn auch hier ist eine gute Kommunikation essenziell. «Viele der Angehörigen können mit dem Thema Demenz nicht gut umgehen. Das ist auch verständlich. Es ist kein schöner Gedanke, wenn die eigene Mutter ihre Kinder nicht mehr erkennt. Oder dem Gespräch nicht mehr folgen kann», so Matthias Renggli. Darum ist es wichtig, dass die Angehörigen sensibilisiert werden: «Möchten Sie eine Person mit Demenz besuchen, so nehmen Sie sich am besten etwas Zeit. Kommen Sie möglichst ungestresst und schaffen Sie eine ruhige Atmosphäre. Hektik ist Gift.»
Aus Gesprächen mit den Angehörigen weiss Matthias Renggli, dass sie manchmal den Eindruck haben, dass ihr Besuch nutzlos sei. Da ist er jedoch anderer Meinung: «Selbst, wenn eine Mutter ihre Tochter nicht mehr erkennt, so kann man ihr etwas Gutes tun. Mit einem Spaziergang, einem Lächeln, einem tiefen Blick – die Gefühle bleiben bis zum Schluss!» Für die Familien ist es besonders schwierig, mitzuerleben, wie die Fähigkeiten langsam schwinden. «Man sagt zwar oft, im Alter werden Menschen wieder wie Kinder. In meinen Augen stimmt das nicht. Bestimmte Fähigkeiten gehen verloren, ja. Aber sie haben das ganze Leben gelebt, mit einer ganzen Biografie, die ein Kind noch nicht hat. Das ist schon ein Unterschied. Es ist noch viel da – mindestens die ganze Gefühlswelt!»
Was die Diagnose mit sich bringt
Die Diagnose Demenz bringt häufig Angst, Trauer und Wut mit sich. Manche Menschen schämen sich auch, da sie wissen, dass sie die Kontrolle über sich selbst irgendwann verlieren werden. Matthias Renggli sieht jeden Tag, wie sich die Erkrankung entwickeln kann. «Ich habe eine andere Perspektive auf die Krankheit. Es geht um die schönen Situationen, die man gemeinsam erleben kann. Ums miteinander Lachen. Wenn man von Demenz redet, hört man nur die negativen Auswirkungen. Es ist nicht nur alles schlecht. Die meisten Bewohnenden sind sehr zufrieden. Für sie stimmt es so – in ihrer eigenen Welt.»
Und trotzdem gibt es da auch andere Gefühle. «Ja, natürlich – es macht auch Angst. Denn es kann jeden treffen. Der Risikofaktor Alter ist allgegenwärtig», so Matthias Renggli. Sollte er die Diagnose Demenz erhalten, wüsste er, was zu tun ist: «Ich würde allen davon erzählen. Verwandten, Freundinnen und Freunden, sogar den Nachbarn oder am besten gleich dem ganzen Quartier. Ich würde sagen: ‹Ich habe beginnende Demenz. Falls ihr mich mal seht, und ich mache etwas Seltsames, kommt bitte auf mich zu. Ihr könnt mir helfen. Das gibt mir Sicherheit, wenn ich etwas mache und es nicht mehr einordnen kann.›» Neben der offenen Kommunikation würde Matthias Renggli auch vorsorgen: Den Vorsorgeauftrag ausfüllen, Wünsche dokumentieren, Passwörter regeln, klar hinterlegen, wie man es haben, möchte, wenn man gepflegt werden muss. «Bei einer beginnenden Demenz kann man noch alles regeln und selbst mitbestimmen. Ab einem gewissen Punkt geht das leider nicht mehr. Schämen muss man sich dafür nicht. Wenn man sich das Bein gebrochen hat, muss man sich auch nicht schämen. Das macht man ja nicht absichtlich. Demenz kann jeden treffen. Wenn man dazu steht, macht es vieles einfacher.»
Wie man mit Menschen mit Demenz spricht:
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Schaffen Sie zu Beginn eine ruhige Atmosphäre. So vermeiden Sie eine Überforderung.
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Suchen Sie den Blickkontakt und sitzen Sie einander am besten gegenüber – nicht nebeneinander. So kann die Person besser einordnen, woher das Gesagte kommt.
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Sprechen Sie langsam und deutlich, machen Sie Pausen zwischen den Sätzen.
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Bilden Sie offene und kurze Sätze mit je einer Botschaft. Packen Sie nicht zu viel in einen Satz.
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Stellen Sie einfache Fragen, die man mit Ja oder Nein beantworten kann. Fragen nach dem Wie oder Warum überfordern schnell oder können möglicherweise nicht beantwortet werden.
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Hören Sie aufmerksam zu und nehmen Sie das Gesagte ernst.
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Üben Sie keine Kritik, selbst wenn das Gesagt offensichtlich nicht stimmt. Akzeptieren Sie, dass es für die Person in diesem Moment so ist.
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Nehmen Sie Kritik nicht persönlich. Die Reaktionen kommen ungefiltert und sind nicht persönlich gemeint.
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Falls die erkrankte Person Sie nicht erkennt, vermeiden Sie lange Erklärungen. Sie sind einfach da, um eine schöne Zeit mit dieser Person zu verbringen.