Nach Herzenslust balancieren: Kinder brauchen ihre kleinen und grossen Abenteuer, so der Kinder- und Jugendpsychologe Urs Kiener.

Kinderpsychologie: Warum suchen Kinder das Abenteuer? 

Warum suchen Kinder und Jugendliche nach Abenteuern und wie können sie diese am besten ausleben? Im Gespräch erklärt uns Urs Kiener, Kinder- und Jugendpsychologe, die Hintergründe.

Nach Herzenslust im Matsch spielen: Kinder brauchen ihre kleinen und grossen Abenteuer, so der Kinder- und Jugendpsychologe Urs Kiener.

Herr Kiener, warum brauchen Kinder Abenteuer?

Abenteuer sind für ihre Entwicklung sehr wichtig. Kinder stärken dadurch ihre Persönlichkeit, ihr Selbstvertrauen und entwickeln soziale Kompetenzen. Aber ganz besonders wichtig sind Abenteuer auch für ihre Kreativität. Kinder lernen so, sich selbst und die Welt zu entdecken.

Was ist überhaupt ein Abenteuer?

Eine eindeutige Definition ist schwierig, denn jeder Mensch empfindet Abenteuer anders. Wenn wir von einem Abenteuer sprechen, ist es immer mit einem sehr intensiven sich selbst Erleben und Aktivitäten mit allen Sinnen verbunden. Denken Sie an ein Baby, das gehen lernt. Für das Baby sind all diese Aspekte vereint. 

Bei Babys und Kindern tendieren Eltern manchmal dazu, sie vor dem Stürzen zu beschützen. Wenn sie ihr Kind einfach machen lassen, dann fällt es vielleicht hin, ist etwas irritiert, lacht, steht wieder auf, probiert es erneut und freut sich über jeden Fortschritt. Das Erfolgserlebnis ist unvergleichlich! Indem die Eltern ihrem Kind Spielraum gewähren, fördern sie die Erfahrung, dass man aus dem eigenen Verhalten erfolgreich sein kann. Und das schon ab dem frühen Babyalter. Was für ein Abenteuer!

 

Eltern und die Abenteuer der Kinder

Verhindern Eltern, indem sie ihre Sprösslinge behüten und beschützen, dass ihre Kinder Abenteuer erleben?

Das kommt immer auf die Situation an. Eltern müssen das Risiko abwägen, das ein Abenteuer mit sich bringt. Das ist nicht immer einfach. Sie möchten ihre Kinder vor Gefahren beschützen, tendieren jedoch manchmal dazu, so sehr einzugreifen, dass sich die Risikokompetenz eines Kindes und auch eines Jugendlichen nicht entwickeln kann. Man muss Kinder und Jugendliche mehr von der Leine lassen, damit der Mut zum Risiko nicht verloren geht. Mein Input: Nehmen Sie dem Kind möglichst nichts ab, was es selber bewältigen kann – oder, entsprechend seinem Entwicklungsstand, erlernen könnte.

Beinhaltet denn jedes Abenteuer auch ein Risiko?

Nein, ein Abenteuer ist nicht immer mit einem hohen Risiko verbunden. Durch gute Vorbereitung werden Risiken kalkulierbar. Ein Abenteuer muss deshalb nicht gefährlich sein.

Heute gibt es viele organisierte und strukturierte Abenteuer, die von Veranstaltern angeboten werden. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Strukturierte Freizeitangebote reagieren einerseits auf den fehlenden Raum für das spontane, freie Spiel, andererseits auf die zunehmende Nachfrage, Kindern auch in der Freizeit «nützliche Kompetenzen» zu vermitteln.

Die Eltern wollen natürlich nur das Beste für das Kind. Und unter «dem Besten» verstehen sie oft möglichst viel Bildung und einen hohen Schulabschluss. Das führt dazu, dass auch die Freizeit zunehmend durch strukturierte, leistungsorientierte Angebote besetzt wird. Der Alltag vieler Kinder und Jugendlicher ist bereits enorm verplant durch Schule, Hausaufgaben, Nachhilfe und hohen Medienkonsum. Kommen noch mehrere strukturierte, leistungsorientierte Freizeitangebote dazu, bleibt den Kindern kaum noch Zeit sich zu erholen. Was früher für uns ein Plausch war, zum Beispiel ein spontanes Fussballspiel, ist heute minutiös durchgeplant. Man trainiert unter der Woche sehr seriös, unter Anleitung eines Erwachsenen, um am Samstag den Match zu gewinnen. Es geht um Leistung. Das hat mit Erholung, freiem Spiel oder einem Abenteuer nicht mehr viel zu tun.

Zerstören wir dadurch den ursprünglichen Sinn des Abenteuers?

Eine kindgerechte Umwelt mit ausreichenden Möglichkeiten für Abenteuer hat eine hohe Bedeutung für eine gesunde Entwicklung. Ein Abenteuer lehrt uns, was wir können und wie weit wir gehen können. Kinder wollen die Welt selbst entdecken. Sie wollen sammeln und jagen, entdecken und erfinden. In einem bestimmten Alter bleiben Kinder bei jedem Stein, jedem Ast und jedem Tier stehen – sie möchten die Welt mit allen Sinnen erfahren. Etwas später möchten sie einer Bande oder Gruppe angehören, da erwerben sie die Kompetenz, Freundschaften zu knüpfen. Die Möglichkeiten dazu sind heute zu einem grossen Teil verschwunden. Früher sind die Kinder nach dem Mittagessen mit ihrer Bande losgezogen, ohne dass die Eltern wussten, wo sie waren. Zum Abendessen waren sie wieder da, und zwar mit einem neuen erlebten Abenteuer.

 

Kinder auf der Suche nach Abenteuern

Ist uns unsere Realität zu langweilig, dass wir nach Abenteuern suchen?

Unsere Realität hat sich tatsächlich in relativ kurzer Zeit sehr stark verändert. Vor noch nicht allzu langer Zeit ging es in unserem Alltag viel mehr ums reine Überleben, als das heute der Fall ist. Jedes Kind war sehr viel häufiger als heute mit schwerwiegenden kritischen Lebensereignissen konfrontiert. Etwa die mangelnde soziale Absicherung in Fällen von Arbeitslosigkeit oder Krankheit haben dazu geführt, dass Kinder früh Verantwortung mittragen mussten. Diese Herausforderungen haben die Entwicklung der Kinder stark beeinflusst. Aber auch der ganz normale Alltag war oft abenteuerlich.

Zu meiner Zeit gingen alle Kinder zu Fuss in die Schule. Schon da erlebten wir Abenteuer: Wir trafen Kollegen, wir sahen einen Igel – das war viel spannender, als mit dem Auto zur Schule gefahren zu werden.

Nehmen wir uns also systematisch die Abenteuerlust weg?

Zumindest wird das Abenteuer zunehmend aus dem ganz normalen Alltag verbannt. Ein Abenteuer ist spannend, lustvoll, macht Lust auf Weiteres. Es ist ein Ausbruch aus der durchstrukturierten Welt, aus der Schule, dem Konsum, den Medien und der strukturierten Freizeit. Die Kinder der heutigen Generation haben oft eine verplante Kindheit.

Wie können wir die ursprünglichen Abenteuer für Kinder wieder erlebbar machen?

Wir können Möglichkeiten schaffen, damit Kinder wieder Abenteuer erleben können. Das muss nicht kompliziert sein und kann mit wenig Infrastruktur gemacht werden. Kinder möchten in der freien Natur spielen und sie entdecken. Sie graben mit ihren Händen ein Loch, befüllen es mit Wasser, sie entdecken einen Baum und die Tiere, die darauf leben. Heute ist jeder Spielplatz so ausgerichtet, dass sich Kinder nach Möglichkeit nicht verletzen. Dieser Sicherheitsgedanke ist nachvollziehbar, aber für ein Abenteuer ist das nicht notwendig. Das freie Spiel in der Natur, ohne Anleitung von Erwachsenen, wäre wünschenswert. Kinder machen dann Dinge, die für Erwachsene vielleicht sinnlos erscheinen. Dabei können sie sich stundenlang mit ganz einfachen Dingen beschäftigen. Wir sollten diese Möglichkeit einfach wieder öffnen und den geplanten, strukturierten Alltag etwas verlassen. Die Verantwortung von Eltern, Pädagoginnen und Pädagogen besteht meines Erachtens darin, den Kindern zu ermöglichen, dass sie spannende Abenteuer selber erleben können.

Urs Kiener, lic. phil., Psychologie, beantwortet gerne ihre Fragen zum Themen im Bereich Kinder- und Jugendpsychologie

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