Mentale Herausforderungen im Leistungssport - Seraina Kuratli im Interview

Stark sein heisst, auch mal «Stopp» sagen zu können

Seraina Kuratli ist Spielerin der CONCORDIA Handball-Akademie und als Torhüterin bei GC Amicitia Zürich in der höchsten Liga der Schweiz im Einsatz. Im Interview erzählt sie über die mentalen Herausforderungen im Leistungssport und wie sie in ihrem Alltag damit umgeht.

   Kurz und einfach

Seraina Kuratli spielt Handball in der Nationalmannschaft.
Sie trainiert viel und stärkt auch ihren Kopf.
Eine Mental-Trainerin hilft ihr dabei.
Sie bleibt ruhig und glaubt an sich.
Sie freut sich über jeden Einsatz mit dem Team.

Seraina, du hattest 2024 mit 17 Jahren deinen ersten Einsatz in der A-Nationalmannschaft. Wie bist du mit dem Leistungsdruck umgegangen?

Seraina Kuratli: Ich habe mich sehr über mein erstes Aufgebot in der A-Nationalmannschaft gefreut! Es war ein riesiges Privileg, dabei zu sein. Deshalb konnte ich mich gar nicht auf einen Druck von aussen konzentrieren. Ich hatte so viel Freude daran und war so stolz, dass sich meine wirklich harte Arbeit gelohnt hat. Es war mein erster Lehrgang und das Team kannte mich nicht. Darum hatte ich auch nicht das Gefühl, dass jemand etwas Aussergewöhnliches von mir erwartete. Vielleicht war das auch nur Einbildung, aber dieses Mindset half mir sehr, denn es hat mir vieles erleichtert.

Seraina Kuratli ist Goali in der schweizerischen Handballnationalmannschaft der Frauen
Seraina Kuratli (Jahrgang 2007) ist seit 2022 Spielerin bei der CONCORDIA Handball-Akademie in Cham. Zudem spielt die Torhüterin in der höchsten Liga für GC Amicitia Zürich und ist Teil der A-Nationalmannschaft.
Seit einem Jahr führe ich jeden Abend ein Journal. So kann ich meine Gefühle besser einordnen und mit einem ereignisreichen Tag abschliessen. Es hilft mir aber auch, tagsüber achtsamer zu sein und zu spüren, was ich wirklich denke und mache.
Seraina Kuratli, Spielerin der CONCORDIA Handball-Akademie, Torhüterin bei GC Amicitia Zürich und ist Teil der A-Nationalmannschaft.

Torhüterin ist im Handball keine einfache Position. Was machst du, um dich mental zu stärken?

Das ist richtig. Ich würde sogar sagen, dass es – was das Mentale betrifft – die schwierigste Position ist. Ich arbeite schon seit einiger Zeit mit einer Mentaltrainerin zusammen. Sie erleichtert mir mein Leben insofern, dass sie mir eine neutrale Perspektive liefert, mir zuhört und immer nur das Beste für mich will. Tatsächlich führe ich aber auch seit einem Jahr jeden Abend ein Journal. So kann ich meine Gefühle besser einordnen und mit einem ereignisreichen Tag abschliessen. Es hilft mir aber auch, tagsüber achtsamer zu sein und zu spüren, was ich wirklich denke und mache. Beide Methoden sind dafür sehr hilfreich.

Wie sehen deine Vorbereitungen vor einem Spiel aus?

Als Torhüterin schaue ich mir die Würfe von den gegnerischen Spielerinnen an und versuche dabei, gewisse Muster zu erkennen. Meistens konzentriere ich mich auf ungefähr drei der wichtigsten Spielerinnen im jeweiligen Team. Sobald ich die Wurfbilder gemacht habe, schreibe ich mir die wichtigsten Merkmale zu diesen Spielerinnen auf und präge sie mir mit Hilfe von Visualisierungen ein. Zudem gehen wir vor dem Treffpunkt am Spieltag als Team einen Kaffee trinken und mein Aufwärmen beinhaltet immer die gleichen Übungen.

Was passiert in dir, wenn du mit deinem Team ein wichtiges Spiel verlierst?

Leider neige ich in solchen Situationen dazu, mich selbst zu hinterfragen oder die Schuld auf meine Perfomance abzuwälzen. Natürlich weiss ich: Handball ist ein Teamsport, in dem man gemeinsam gewinnt, aber auch verliert. Jedoch ist es als Torhüterin nicht so einfach, die Niederlagen in Form von Toren zu verarbeiten oder richtig einzuordnen. Für mich hat es immer Priorität, dass mein Team gewinnt und damit das möglich ist, will ich meinen allerbesten Beitrag dazu leisten. Zudem denke ich, dass ich mit mehr Erfahrung lernen werde, meine eigene Leistung besser einzuschätzen und dann noch gezielter zu optimieren. Aktuell liegt der Fokus noch sehr stark bei Statistiken.

Was machst du, um dich persönlich zu stärken?

Es gab viele Momente, in denen ich mich schwach gefühlt habe. In der letzten Saison sogar sehr viele. Da fiel ich unter dem Druck zusammen. Ich habe aber nie aufgehört zu kämpfen. Ich habe nie aufgegeben und immer härter gearbeitet. Im Training habe ich meine grössten Misserfolge als Motivation gesehen und einfach weiter gemacht. Deshalb würde ich auch sagen, dass eine meiner grössten Stärken mein starker Wille ist. Genau dieser hat mir nach jedem Misserfolg geholfen wieder aufzustehen.

Eine meiner grössten Stärken ist mein starker Wille. Genau dieser hat mir nach jedem Misserfolg geholfen wieder aufzustehen.
Seraina Kuratli, Spielerin der CONCORDIA Handball-Akademie, Torhüterin bei GC Amicitia Zürich und ist Teil der A-Nationalmannschaft.

Bei so vielen Trainings und Spielen bleibt wenig Zeit für Erholung. Wie schaltes du ab?

Ich verbringe sehr gerne Zeit mit meinen Freunden und meiner Familie. Tatsächlich sind aber meine engsten Freunde alle aus dem Handball, deshalb sehe ich sie täglich beim Training oder immer mal wieder bei Spielen. Während der Woche wohne ich bei einer tollen Gastfamilie in Cham, bei der ich mich wohlfühle. Trotzdem freue ich mich jedes Wochenende darauf, nach Hause zu kommen. So kann ich mich am besten von dem ganzen Trubel erholen.

Was bedeutet es für dich, mental stark zu sein?

Für mich sind Leute nicht mental stark, wenn sie nie weinen. Eigentlich komplett das Gegenteil. Ich finde es extrem stark, wenn jemand für sich einstehen kann und auch mal «Stopp» sagt, wenn man mental gerade komplett übersäuert. Ebenfalls finde ich es stark, wenn man seinen eigenen Weg geht und jedes Hindernis mit vollem Einsatz zur Seite räumt. So kommt ein inneres Vertrauen auf, worauf man in schwierigen Situationen zurückgreifen kann.

In weniger als drei Wochen bestreitet die Schweizer Frauennationalmannschaft ihre erste Weltmeisterschaft und auch du wirst in Holland dabei sein. Wie gross ist die Vorfreude bei dir und dem ganzen Team? 

Dass ich dieses Aufgebot erhalten habe, ist für mich alles andere als selbstverständlich. Dementsprechend gross ist dafür meine Vorfreude. Auch im Team spüre ich viel Enthusiasmus und Spannung für dieses neue Erlebnis. Schliesslich ist es für uns alle die erste Weltmeisterschaft überhaupt. Es freut mich, dass der Trainerstab mir dieses Vertrauen schenkt und mir die Chance gibt, dem Team so gut es geht zu helfen. Diese Aufgabe nehme ich mit viel Stolz und Bereitschaft an und versuche zu zeigen, wie viel mir diese Möglichkeit bedeutet. Denn genau das ist das Niveau, auf dem ich mich eines Tages etablieren möchte! 

Wie verändert sich die Spielvorbereitung für so ein grosses Turnier?

In Turnieren ist der kurze Abstand zwischen den Spielen ein zentrales Thema, wenn es darum geht, sich auf ein Spiel vorzubereiten. Jedoch haben wir ein grossartiges Coaching-Team, welches sich um die Videoclips kümmert und uns diese so schnell wie möglich zur Verfügung stellt. Diese Clips werden zuerst individuell und danach mit dem ganzen Team angeschaut. Meistens aber einen Tag vor dem Spiel. Am Spieltag selber gibt es höchstens noch eine ganz kurze Session, wenn kleinere Details geklärt werden müssen oder es am Vortag schon sehr spät war. Aber auch hier: Der gemeinsame Kaffee fehlt nie.

 Info

Nachwuchsförderung an der CONCORDIA Handball-Akademie

Die CONCORDIA Handball-Akademie ist seit 2020 die Geburtsstätte von Talenten im Schweizer Frauenhandball. Im Kompetenzzentrum OYM (On Your Marks) in Cham erhalten die talentiertesten Spielerinnen im Alter von 14 bis 20 Jahren unter professionellen Bedingungen das Rüstzeug für einen erfolgreichen Weg an die Spitze.